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Sonntag, 10. Juni 2018

Kapitel 6. Keine Sicherheit

Als Chris nach oben gegangen war, um nach Jakob zu schauen, hatte Tanja sich schon einmal bereit fürs Bett gemacht. Dabei handelte es sich nicht wirklich um ein Bett, sondern um eine Couch, die man zu einem bettähnlichen Gestell ausklappen konnte. Sie war dunkelbraun, groß, etwas rauer vom Stoff her, aber ansonsten ganz bequem.

Generell fand Tanja es nicht schlimm im Wohnzimmer zu schlafen. Die hölzernen Möbel und die freie Sicht nach draußen, gaben ihr das Gefühl mit der Natur verbunden zu sein. Besonders Nachts, wenn der Mond über den Himmel herrschte und die Sterne gut zu sehen waren. Das waren die Nächte in denen Tanja am besten schlief. Wohlbehütet und geborgen im dämmernden Licht des Mondes, während die Sterne abwechselnd stärker und schwächer funkelten, als tauschten sie untereinander Gute-Nacht-Geschichten aus. Nicht aber in dieser Nacht.

In dieser Nacht war es der Neumond der über den Himmel herrschte und bei Neumond blieb der Himmel schwarz. Kein Mondscheinlicht und auch kein Sternenfunkeln würde ihr dieses Mal den Schlaf versüßen. So kam es, dass Tanja sich gezwungen sah aufzustehen, um eine Kerze anzuzünden.

Als die Kerze schließlich brannte, ließ sie sich mit dem Rücken zurück ins Bett fallen und starrte mit leerem Blick die hohe Decke an. Im flackernden Kerzenlicht erschien sie gelblich-orange.

'Passiert das alles wirklich?', fragte sie sich nicht zum ersten Mal und wusste wie immer keine Antwort darauf. Es war einfach so viel passiert.

Morgens glaubte sie stets, alles sei nur ein böser Traum gewesen und dass sie in Wirklichkeit noch immer mit Chris und Jakob in ihrem Auto saß und auf Romeo warteten. Sobald er wieder da wäre, würde sie toben, sagte sie sich. Toben würde sie, ihn anbrüllen und ihn fragen was das soll, warum er so lange gebraucht hatte und warum er sich nicht hatte beeilen können, der Scheißkerl!

Doch irgendwann merkte sie, dass irgendetwas nicht stimmte. Spürte die Bettdecke über ihren Leib. Erkannte die Möbel um sich herum und wurde sich wieder schmerzhaft bewusst wo sie war. Gefangen in dem bösen Traum, der gar kein Traum war.

Mit dieser Erkenntnis kehrte dann auch die Erinnerung zurück und mit der Erinnerung erneut das Gefühl von Leere und Verlust.

Noch immer schnürte es ihr die Kehle zu, wenn sie darüber nachdachte, wie sie Jakob hinten im Rücksitz vorgefunden hatte. Regungslos und ohne Körperspannung. Eigentlich schon wie ein Toter.

Sie vermochte sich nicht vorzustellen wie alles abgelaufen wäre, wenn Chris nicht dabei gewesen wäre. Im Gegensatz zu ihr, wusste er immer was zu tun war.

"Tanja, ruf schnell einen Krankenwagen an!", hatte er ihr zugerufen, nachdem er Jakobs Atmung und Puls überprüft hatte. Sie fragte sich wann Chris vom Beifahrerplatz aufgesprungen war und die Tür aufgerissenen hatte, doch legte sie diese Frage erstmal beiseite und kam seiner Aufforderung sofort nach.

Beim Warten erschien es ihr, als verstrichen die Sekunden wie Stunden. Chris musste ebenso empfunden haben.

"Wie lange dauert es noch?", fragte er ungeduldig.

"Keine Ahnung, da geht keiner ran." Zum Beweis schaltete sie den Lautsprecher ein und ließ ihn sich selbst einen Reim auf das ertönende Freizeichen machen.

"Das gibt's doch nicht, mann!", entgegnete er gereizt und suchte mit hin und her huschenden Augen nach einer Lösung. Und da war sie auch schon.

"Dein Vater! Er ist doch Polizeichef oder sowas. Bestimmt kann er uns einen Krankenwagen schicken." Tanja verzog das Gesicht, als hätte sie auf etwas gebissen, dass ihr nicht schmeckte.

"Ja schon, aber ich glaube nicht, dass das sein Aufgabenbereich ist. Außerdem haben wir wieder Streit." Chris sah sie entgeistert an.

"Das kannst du doch nicht ernst meinen, Tanja. Ist Jakob nicht dein Freund?" Tanja schlug mit der Faust gegen das Lenkrad.
"Natürlich ist er das, aber du kennst meinen Vater nicht!"

"Ich kenne aber Jay und Jay würde für dich mit dem Teufel höchst persönlich telefonieren, wenn es dein Leben retten könnte! Jeder von uns würde das für dich tun. Jeder der dein wahrer Freund ist. Würdest du einen wahren Freund sterben lassen, obwohl ein Anruf ihn vielleicht retten könnte?" Tanjas Gesicht rötete sich bei diesen Worten.

"Das ist echt nicht fair von dir, Chris. Das ist einfach nicht fair." Sie wartete seine Reaktion nicht ab, sondern wandte ihm den Rücken zu und rief ihren Vater an. Dabei schien die Zeit wieder kaum zu verstreichen.

"Und?", fragte Chris nach einer Weile. Tanja schüttelte den Kopf. Chris Augen wurden kurz groß. "Was, echt jetzt?" Schweißperlen bedeckten seine Stirn. Er fragte sich, warum heute nur alles schief lief.

Ungebeten überfiel ihn ein unangenehmes Gefühl, so als würde er beobachtet werden.

Rasch warf er einen langen, eindringlichen Blick auf das Schulgebäude, dass wie eine Festung hinter ihnen aufragte. Dabei fiel sein Blick auf einen Raben, welcher in der Nähe des Haupteingangs auf einer Laterne saß. Dieser schien ihn mit seinen roten Knopfaugen fest zu fixieren. Als der Rabe sah, dass Chris ihn beobachtete, blinzelte der Rabe zweimal, wendete den Kopf von ihm ab und flog mit großem Sprung davon. Da traf Chris seine Entscheidung.

"Tanja. Vergiss deinen Vater, mann. Wir müssen hier weg." Er zog Jakob aus dem Auto und warf ihn sich über die Schulter, wie einen nassen Sack Reis. Tanja kam nicht mehr mit.

"Wie jetzt? Was ist denn los? Und warum trägst du Jakob jetzt aus dem Auto, wenn wir doch weg sollen? Ich versteh gerade gar nichts mehr, Chris." Er ignorierte ihre Fragen. Nickte sie stattdessen mit dem Kopf zu sich.

"Komm, wir müssen hier weg! Ich erkläre dir alles auf dem Weg." Tanja setzte ihre bekannte, störrische Miene auf.

"Dann gehen wir aber zur meiner Großmutter. Ich muss unbedingt wissen wie es meiner Luna geht."

"Ist es weit bis zu ihr?" Tanja zeigte mit dem Zeigefinger auf einen Hügel in der Ferne.

"Zehn Minuten von hier. Höchstens fünfzehn."

"Gut, dann lass uns vorübergehend dort hin." Sie waren kaum drei Schritte gegangen, als Tanja laut Aufschrie.

"Verfickte Scheiße!" Chris drehte sich zu ihr um.

"Was ist los? Was ist passiert?" Tanja fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und stöhnte.

"Mein Handy ist gerade aus gegangen und ich kenne den Weg zu Fuß nicht." Mit einer raschen Handbewegung gab Chris seine Armbanduhr zu erkennen.

"Keine Sorge. Ich kenne da jemanden, der uns helfen kann." Er hielt sie sich vor dem Mund und sprach hinein: "Verbindung zu Code B-E-N herstellen."
Eine mechanische Damenstimme antwortete: "Verbindung zu Code B-E-N wird hergestellt." Nach wenigen Sekunden ging schon jemand ran.

"Jo, was gibt's?"

"Ben!" Beim Klang der Stimme seines großen Bruders, wurde es Chris warm ums Herz. "Mann bin ich froh deine Stimme zu hören." Der Ben genannte fing an zu lachen.

"Das sagen die Mädels auch immer. Was ist denn los, Bruder? Wo drückt der Schuh?" Chris vernahm ein weiches Schmatzgeräusch, wie wenn jemand in einen Apfel biss.

"Ben, kannst du mir eine Karte von meinem Standort und meiner Umgebung versenden? Die Koordinaten sind x12/y10 Kontinent 91. Radius 2 bis 6." Wieder war da das Schmatzgeräusch.

"Mmmh, lass mich mal schauen." Ein Orchester aus Tastengetippe und Schmatzgeräuschen spielte eine Zeit lang bis ein lautes Husten die Vorführung beendete.

"Oh, oh. Chris, du musst da sofor... we...!" Ein starkes Rauschen ertönte plötzlich und man konnte das Gesprochene Wort nicht mehr verstehen.

"Ben? Ben?" Es folgte keine Antwort. Tanja trat näher.

"Was ist los?"

"Komisch. Die Verbindung wird plötzlich schlechter", antwortete Chris so überrascht, als hätte er gerade ein Gespenst gesehen.

"Was ist daran komisch?" Chris tippte mit dem Zeigefinger auf die Uhr.

"Meine Uhr benutzt ein komplett anderes Netzwerk, als das von deinem Handy. Verbindungsstörungen habe ich noch nie gehabt."

Tanja fühlte sich an die Störgeräusche, die ihr Autoradio vorhin von sich gegeben hatte, zurück erinnert. Und jetzt wo Chris es sagte, auch ihr Radio hatte bis dahin nie Probleme gemacht. Was hatte das zu bedeuten?

"Bruder? Brud..? Bist...u... noch da? Hallo..örst... u... mich?", kam es verzerrt aus Chris Uhr heraus.

"Ja, ich bin hier, Ben! Kannst du mich hören? Ben!?"

"Lauf..., Bruder. Es ist zu... gefähr...wo du.. ist, ...lauf!"

"Was? Ich versteh kein-"

"Verbindung zu Code B-E-N wurde abgebrochen", unterbrach ihn die mechanische Damenstimme und das Rauschen war mitsamt der Stimme seines Bruders verschwunden.

"Verdammt! Was hatte er am Ende gesagt? Tanja, hast du vielleicht verstanden was er ge-", hatte Chris angesetzt, als ihm beim Anblick der Situation die Worte in der Kehle verendeten. Eine goldene Kette hatte sich wie eine Würgeschlange um Tanjas Hals geschlungen und ihr die Luft abgedrückt und über ihren Kopf schwebte eine Zahl, die sich im Sekunden-Takt veränderte.

Acht.

Sieben. 'Nein, das darf nicht sein!'

Sechs. 'Das kann nicht sein!'

Fünf.

Und da Begriff er es. Bei Null würde Tanja verschwinden.

Vier. "Neeeein!", schrie er und lief mit Jakobs Körper auf seinen Schultern so schnell er konnte auf sie zu.

Drei. "Tanja!" Er streckte seine Hand nach ihr aus. "Gib mir deine Hand, schnell!" Doch dies war ihr unmöglich. Stattdessen war sie gerade dabei das Bewusstsein zu verlieren. Ihre Pupillen waren schon soweit nach oben gerollt, dass man nur noch das weisse, der Augen sehen konnte.

Zwei. Chris holte nochmal alles aus sich heraus und hoffte sein linker Arm, der nicht mit dem Gewicht von Jakob beladen war, würde es noch rechtzeitig schaffen.

Eins.

"Tanja!" Sein lauter Ruf war für sie zu einem leisen Flüstern verklungen. Sie wollte ihm die Hand reichen. Sie wollte es unbedingt, doch sie konnte es nicht! Keine Kraft war mehr in ihr geblieben. Keine Kraft und bald auch keine Leben mehr so dachte sie noch, bevor ein grelles, blaues Leuchten, sie wie ein Lichtschalter ausknippste und Schwärze ihr das Augenlicht raubte.

Das letzte an das sie sich noch erinnerte, war die tröstliche Wärme einer Hand, bevor ihr der Kopf von einer Übermacht abgerissen wurde.

In jener Nacht herrschte der Neumond.

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