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Mittwoch, 31. August 2016

Kapitel 4. Wiedergeburt

Langsam hob Jakob die schweren Lider und blickte irritiert ins leere Dunkle.

'Wo bin ich?'

Er blinzelte und kniff mehrmals die Augen fest zusammen, doch alles Blinzeln und Augenkneifen hatte nichts genützt. Mit geöffneten sowie mit geschlossenen Augen blieb die Welt nach wie vor im Schatten. Ein unheimlicher Gedanke überfiel ihn abrupt.

'Bin ich möglicherweise... tot?'

Das letzte Wort echote in seinen Gedanken, wie ein Krähenruf. Tot. Tot. Tot. Er erinnerte sich noch daran, wie ein heißer, stechender Schmerz, zäh und massig wie Magma, sich auf sein Bewusstsein gestürzt hatte und ihn wie einen kleinen Jungen hatte laut aufschreien lassen. Es war ein Albtraum. Ein nie enden wollender Albtraum, hatte er gedacht - bis die Pein so unerträglich geworden war, dass ein Geräusch wie wenn Leder reißt, dann doch noch den Albtraum beendete. Danach folgte Finsternis. Stille. Und nun war er hier.

'Nein, ich bin nicht tot... das kann nicht sein... das DARF nicht sein!'

Jakob wollte es nicht wahr haben. Zu viele Dinge waren noch ungetan. Zu viele Rätsel ungelöst. Also fuhr er sich mit einer Hand übers Gesicht, um zu überprüfen, ob er noch einen physischen Körper besaß. Dabei wanderte er mit den Fingern von den Nasenflügeln bis übers Nasenbein. Betastete dann beide Augen. Strich sich über die markanten Wangenknochen und endete schließlich an den schmalen aber wohlgeformten Lippen, die er seine nennen durfte. Warme Atemluft, die von seiner Nase austrat, liebkoste seine Fingerkuppen. Er atmete. Er atmete und fühlte und lebte somit noch immer.

'Ich lebe!'

Im selben Moment dieser Erkenntnis schossen ihm seine Freunde durch den Kopf.

'Tanja! Chris! Wo sind sie? Und Romeo? Ist Romeo wieder zurück?'

Bei dem Gedanken an Romeo, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Er versuchte sich vorzustellen, wie Romeo gesund und munter mit den anderen bei Chris zu Tische saß und sie nur noch darauf warteten, dass er aufwachte und sich zu ihnen dazu gesellte. Chris konnte er beinah sagen hören:

"Na, endlich! Da ist ja unsere Schlafmütze. Komm schon, Jay. Schwing dich zu mir rüber und iss mit uns mit, mann. Es ist genug für alle da!

Tanja hingegen sagte in seiner Vorstellung:

"Du brauchst die Salatschüssel gar nicht erst so blöd anzuglotzen, Vierauge. Kannst dir schön selbst 'ne Schüssel machen. Diese hier ist meine!"

Schließlich würde Romeo sagen... er würde sagen...nein. Es klappte nicht. Aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht vorstellen, was Romeo bei seinem Erscheinen sagen würde. Und generell hatte er ihn plötzlich nur noch schwach in Erinnerung, so als habe er ihn das letzte mal vor vielen, vielen Jahren gesehen. Dabei waren sie doch erst heute zusammen in der Schule gewesen.

'Warte mal. War es heute gewesen?'

Das konnte er gar nicht mehr mit Sicherheit sagen, fiel ihm jetzt auf. Schließlich wusste er doch nicht wie viel Zeit mittlerweile verstrichen war. Er versuchte sich daran zu erinnern, was sie nach der Schule gemacht hatten, doch daraufhin wurde es in seinem Kopf nur noch leerer.

'Nein, so klappt das nicht. Darüber werde ich später nachdenken müssen. Erst einmal muss ich herausfinden wo ich hier überhaupt bin.'

Er wollte sich aufrichten und sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, als er plötzlich etwas im Gesicht zu spüren glaubte.

'Was war das?'

Feucht. Mehr rau als glatt und eine Berührung, die ihn von unten nach oben streifte. Der Kontakt war jedoch so kurz gewesen, dass er es genauso gut geträumt haben könnte. Hatte er es nur geträumt?

'Reiß dich zusammen, Jakob. Wahrscheinlich werde ich zu lange auf einer Seite gelegen haben, weshalb das zirkulieren meines Blutkreislaufs jetzt in meinem Gesicht kribbelt. Das ist alles', redete er sich ein und tat die Besorgnis damit ab. Einen Wimpernschlag später jedoch vernahm er wieder den Kontakt. Wieder feucht. Mehr rau als glatt und wieder eine Berührung von unten nach oben.

'Nein, das ist nicht mein Blut. Da ist irgendetwas!'

Augenblicklich schoss Jakob's Oberkörper in die Höhe, die Arme vor sich in einer verteidigenden Haltung.

"Wer ist da?", rief er und versuchte stark und bestimmend zu wirken, merkte aber wie schwach und heiser er klang.

'Was ist mit meiner Stimme passiert?'

Abermals fragte er sich, wie lange er wohl schon hier herum lag, aber auch darum würde er sich später Gedanken machen. Du-dumm! Plötzlich spürte er, wie sein Herz laut zu pochen begann und ein unbeschreiblich intensives Gefühl in ihm ausbrach. Bilder, nein ganze Szenen warfen sich vor seinem inneren Auge und rissen ihn wie eine mächtige Lavine in die Tiefe einer anderen Welt. Eines dieser Szenen zeigte, wie Chris bei Blitz und Regen in einem Garten stand und immer wieder eine Schaufel in den aufgeweichten Boden hinein rammte. Dabei blickte er ungewöhnlich ernst und traurig drein. Eine andere Szene zeigte Tanja in mitten eines Schlafzimmers, die sich hysterisch zu Boden warf und wehleidig zu weinen anfing. Wieder eine andere Szene zeigte, wie ein kleiner Hundewelpe im hohen Bogen vom Bett sprang und unglücklich zu landen drohte.

'Was sind diese Ausschnitte? Woher kommen sie?'

Er bekam keine Antwort. Stattdessen spielte sich die Szene mit dem Welpen nochmals ab und da fiel es ihm auch plötzlich auf.

'Der Welpe springt aber ungewöhnlich hoch.'

Die Szene spielte sich erneut in seinem Kopf ab.

'Warte mal... er springt nicht... sondern fliegt. Ja, genau - er fliegt, weil ihn etwas in die Luft geschleudert hat... nein, nicht etwas. JEMAND!'

Eine andere Szene sollte für Klarheit sorgen. Dort sah er wie der Hundewelpe wenige Sekunden vorher auf der knochigen Schulter eines im Bett liegenden, jungen Mannes lag und freudig sein Gesicht ableckte. Reflexartig schoss jedoch der Oberkörper des Mannes in die Höhe und katapultierte dabei versehentlich den Hundewelpen in die Luft. Augenblicklich wurde Jakob da etwas klar. Der abgemagerte, junge Mann in der Szene... war er selbst.

Sonntag, 21. Februar 2016

Kapitel 3. Bilder aus der Hölle

Nachdem der verzweifelte Hilfeschrei des Radiosprechers den unerwarteten Eilbericht beendet hatte, hielten nur noch ein leises Rauschen und ein stetig tönender Piepston die Stille davon ab, es sich im Auto gemütlich zu machen. Doch selbst wenn Stille eingekehrt wäre, hätte zumindest Jakob diese nicht bemerkt, zu tief versunken war er in Gedanken.

'Menschen aus der ganzen Welt wurden als vermisst gemeldet?', dachte er und tat sich schwer damit dem Eilbericht glauben zu Schenken.

'Heißt das der Radiosprecher ist gerade wirklich... verschwunden? Einfach so?' Jakob ballte die Hände zu Fäusten zusammen und versuchte die Fassung zu bewahren.

'Bleib ruhig, Jakob. Beruhige dich! Wahrscheinlich wird es sich bei der Meldung nur um ein zur Unterhaltung inszeniertes Schauspiel handeln, welches spätestens morgen Mittag als kleiner Frühlings-Geck vorgestellt wird. Jedenfalls werde ich mich jetzt auf dem Weg machen und nach Romeo schauen. Schließlich muss er hier noch sein.' Jakob machte Anstalten aufzustehen und hatte schon den Türgriff in der Hand gehabt, als ihn kurzeitig ein greller, stechender Schmerz ereillte.

"Argh, mein Kopf... was ist das?"
Ein heißes Pochen blieb in seinem Kopf zurück und machte es ihm beinah unmöglich einen Gedanken zu produzieren. Als Gegenmaßnahme massierte er sich die Schläfen, doch half es genau so wenig, wie wenn man versuchte einen Hexenschuss mit einer heißen Tasse Kakao zu vertreiben. Von alle dem bekam Chris nichts mit. Dieser war gedanklich ganz woanders.

"Alter, was zur Hölle war denn das?", gab Chris schrill und mit über den Kopf geworfenen Händen von sich, nicht sicher ob er vom Eilbericht fasziniert oder schockiert sein sollte. Er musste daran denken, was ihm seine Uhr noch vor wenigen Momenten mitgeteilt hatte und zählte eins und eins zusammen.

'Moment mal, könnte es sein, dass Romeo wie der Mann im Radio auch...', er wagte es nicht den Gedanken zu Ende zu denken und ließ das Unausgesprochene unausgesprochen.

"Jay, wie denkst du darüber?", fragte er schnell, als wollte er die vorherigen Gedanken dadurch schnell ungeschehen machen. Tanja mischte sich ein.

"Also ICH denke, dass ich selten etwas so Bescheuertes im Radio gehört habe. Das war sowas von schlecht gespielt."

"Gespielt?", entgegnete Chris erstaunt. "Hast du den Typen eben nicht schreien gehört? Das war doch nicht gespielt, mann." Gerade hatte Jakob den Mund öffnen wollen, um etwas darauf zu erwidern, als das Radio unerwartet verrückt spielte und laute Funkgeräusche von sich gab.

"Ey, ich krieg hier noch 'nen Rappel! Ist dieses verfluchte Ding jetzt ganz kaputt oder wie?", tobte Tanja, während sie abermals die Leiser-Taste des Radios betätigte. Als ihr ungeduldiges Gedrücke nicht die gewünschte Wirkung erzielt hatte, fuchtelte sie zusätzlich noch an den anderen Knöpfe herum, um zu schauen, ob das Radio überhaupt noch reagierte. Dem immer noch währenden Lärm zur Folge anscheinend nicht. Schließlich gab sie sich geschlagen und schaltete das Radio gänzlich ab.

Unfroh darüber nun ohne Musik im Auto verweilen zu müssen, ließ sie ihren Kopf auf das Lenkrad fallen, wobei sie mit ihrer hohen Stirn versehentlich die Hupe betätigte. Vor lauter Schreck schrie sie auf und klang zum ersten Mal seit langem, wieder wie das unschuldige, kleine Mädchen, das sie auch in Wahrheit war. Röte stieg ihr ins Gesicht, zunächst vor Scham, dann vor Wut auf ihre eigene Ungeschicktheit. Irgendwie aber gelang es ihr sich dieses eine Mal zusammenzureißen und kein einziges böses Wort zu verlieren. Stattdessen holte sie einmal tief Luft und ließ diese ganz langsam wieder heraus.

"Heute ist eindeutig nicht mein Tag", erklärte sie.

"Hätte ich geahnt, dass Romeo sich so krass verspäten würde, wäre ich schon längst zu meiner Oma gefahren und hätte mich um meine hochschwangere Luna gekümmert. Die Jungen wird sie zwar erst in ein paar Tagen bekommen denke ich, doch da es Luna's erste Schwangerschaft ist, will ich so oft es geht für sie da sein. Aww, wie ich mich schon auf die süßen, kleinen Hundebabys freue. Ich kann es kaum noch abwarten sie endlich zu knuddeln!" Augenblicklich schoss Jakob etwas durch den Kopf.

'Hat sie das nicht schon mal erzählt?' Irgendetwas an der Art wie Tanja die Geschichte erzählte, hatte in ihm ein unbeschreiblich vertrautes Gefühl geweckt. Langsam rutschte Jakob vom hinteren linken Sitz zur Mitte hin, um Tanja beim Erzählen besser beobachten zu können. Und tatsächlich! Je länger er ihr beim Erzählen zuschaute, desto stärker fühlte er sich in dem Gefühl bestätigt all das schon einmal gehört zu haben.

'Ich fass es nicht. Die Worte, die sie verwendet... die Kleidung, die sie dabei trägt... überhaupt, dass wir hier zu dritt im Auto sitzen und auf Romeo warten... wieso kommt mir das alles so bekannt vor? Aber das kann nicht sein. Sagte sie nicht gerade, es sei Luna's erste Schwangerschaft?' Fieberhaft grübelte er darüber, wie es sein konnte, dass ihm die ganze Situation so bekannt vorkam, doch eine Antwort auf diese Frage sollte er nicht bekommen. Und dann geschah es! Als habe jemand heimlich einen Schalter umgelegt, veränderte sich innerhalb eines Atemzugs die ganze Welt. Alles bewegte sich plötzlich Hundertmal langsamer. Farben verschwanden ins Nichts, Klänge verpufften in der Luft und überall wo Jakob hinschaute bestand plötzlich alles aus einsen und nullen. Die Fahrsitze. Deren Kleidung. Die draußen auf einer Laterne krächzene Krähe. Die Worte aus Tanjas Mund - ja sogar Tanja und Chris selber.

'Verliere ich jetzt komplett den Verstand? Wa- was passiert hier?' Mit aufgerissenem Mund und verwirrtem Blick saß Jakob einfach nur da und verstand die Welt nicht mehr. Er nahm die Brille herunter, rieb sich die Augen, kniff sie mehrmals fest zusammen und setze sich die Brille wieder auf. Kein Traum. Alles was er sah, geschah wirklich. In mitten der farblosen Stille entdeckte er durch die vordere Windschutzscheibe einen blau-schwarz bemusterten Schmetterling, welcher friedlich und in aller Ruhe herum zu flattern schien.

'Dieser Schmetterling... er ist anders.' In der Tat war der Schmetterling anders. Anders als alles andere schien nur dieser als einziger nicht aus einsen und nullen zu bestehen. Zudem flatterte der Schmetterling auch als einziger im normalen Tempo weiter. Was hatte dies zu bedeuten? Gerade als Jakob sich genau diese Frage stellte, fiel ihm etwas auf. Der Schmetterling schien sich direkt auf ihn zu zu bewegen.

'Nein, das kann nicht sein', hatte er gedacht und sich eingeredet, dass dieser jeden Moment die Richtung wechseln würde. Doch stattdessen kam es näher und näher und immer näher - bis das flatternde Wesen direkt vor der Windschutzscheibe war und dann plötzlich... im Auto war. Im Auto?! Jakob wollte seinen Augen nicht trauen, doch hatte er nun auch die Flügelschläge des Schmetterlings ganz deutlich vernehmen können.

"Wusch, wusch, wusch, wusch." Näher und näher rückte das Geräusch der auf und ab bebenden Flügeln. Noch immer war Jakob total erstaunt darüber, dass der Schmetterling die physikalischen Gesetze der Natur komplett ignoriert hatte. Es war einfach durch die Autoscheibe hindurch geflogen. Einfach so. Mittlerweile war der Schmetterling nur noch eine Armeslänge von ihm entfernt - nein 40 cm - jetzt nur noch 22 cm - 4 cm... und schließlich landete es behutsam und mit zwei abschließenden Flügelschlägen auf Jakobs Stirn. Einen Moment lang verharrte es dort, ruhig wie die Erde selbst. Dann, wie tropfendes, glühendes Lava, brannte es sich unangekündigt in Jakobs Schädel ein und verschwand mit einem grellen Leuchten so plötzlich wie es überhaupt erst aufgetaucht war. Verwundert tastete Jakob die Stelle unter dem Haaransatz ab, wo bis eben noch der Schmetterling gesessen hatte. Nichts.

'Was? Wo ist es hin?' Ein dumpfes Herzklopfen, das bis in seinen Schädel nachhallte, würde ihm schon bald die Antwort liefern. Ein unvorstellbar grausames Kopfschmerz-Inferno brach mit einem Male aus, so schmerzhaft, dass Jakob nicht anders konnte, als sich mit beiden Händen krampfhaft an den Kopf zu packen. Schon bald war es nicht mehr möglich ein wehleidiges Stöhnen zu unterdrücken, welches in kürzester Zeit zu einem von Pein geplagten Schrei heranwuchs.

'Was ist... das? Solche... Schmerzen!' Noch fester hielt er sich den Kopf zusammen. Fürchtete, dass wenn er dies nicht täte, ihm der Kopf zu zerbersten drohen könnte. Bittere Tränen bahnten sich jetzt den Weg nach draußen und vermochten ihm ein wenig Trost zu spenden. Gerade als Jakob fest davon überzeugt war, dass dies sein Ende war, erreichte ihn eine Flut aus Bildern vor seinem inneren Auge. Was er zu sehen bekam, ließ seine Pupillen augenblicklich auf die Größe von zwei kleinen Stecknadelköpfen schrumpfen. Kalter Schweiß rann ihm die Stirn herunter.

'Aufhören... aufhören! Es ist zu viel... viel zu viel!' Tausende und abertausende von Bildern wurden in Bruchteilen von Sekunden durch seinen Kopf gejagt. Millionen schrecklicher Bilder. Grauenvolle Bilder. Bilder von all seinen Freunden... zerstückelt, in ihrem eigenen Blut liegend und - tot.