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Dienstag, 11. September 2018

Kapitel 7. Ein Loch im Herzen

Schreiend erwachte Tanja aus dem Albtraum wie von einem Sturz in die Tiefe.

"Beruhig dich, Tanja. Es ist alles in Ordnung", kam es von einer Stimme. Einer männlichen Stimme. Warm und freundlich.

"Chris?" Sie richtete ihren Oberkörper auf und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. "Wo-wo bin ich? Was ist passiert?" Chris setzte sich zu ihr ans Bett und schenkte ihr ein breites Lächeln.

"Du bist eingeschlafen, mann." Tanja fasste sich an die Stirn und verzog eine schmerzverzerrte Miene.

"Ich bin eingeschlafen?" Irritiert ließ sie den Blick umher schweifen bis ihre Aufmerksamkeit an der langen, lodernden Flamme des Kerzenstummels haften blieb.

'Moment mal... habe ich sie nicht eben erst angezündet? Wie kann sie nur noch so klein sein? Habe ich so lange geschlafen?' Chris riss sie aus den Gedanken heraus.

"Hier. Eine kleine Erfrischung." Er reichte ihr ein Glas Wasser an.

"Danke", entgegnete sie und war froh über das Angebot, denn der Traum hatte sie schwach und hilflos wie ein Baby-Kätzchen zurückgelassen.

'War es wirklich nur ein Traum?' Sie vermochte es nicht mit Sicherheit zu sagen, doch nachdem sie das Glas in einem Zuge geleert hatte, ging es ihr schon sichtlich besser. Sie wollte Chris soeben etwas bezüglich der Welpen fragen, da bemerkte sie, wie sein Blick ernst wurde.

'Oh, oh. Er will, dass ich ihm von dem Traum erzähle. Sowas peinliches erzählen ich ihm doch nicht.' Stattdessen startete sie ein Ablenkungsmanöver.

"Wie-wie geht es den Welpen?", fragte sie schnell und ärgerte sich darüber, dass sie stammelte.

"Dancer, Angel und Ghost schlafen am Kamin bei Luna. Wisdom schläft oben bei Jay."

"Was? Er schläft oben? Warum hast du ihn mit hoch genommen? Sie sollen doch nicht-"

"Ich habe ihn nicht mit hoch genommen", unterbrach er sie, "ich war ja selbst überrascht, als ich ihn bei Jay im Zimmer antraf."

"Antraf? Er war also vor dir oben? Wie soll er denn alleine die hohen Treppenstufen hochgeklettert sein?"

Grinsend nahm Chris ihr die dünne Decke weg und schmiss sie auf dem Boden.

"So." Tanja runzelte die Stirn.

"So?" Chris knüllte die Decke zu einem großen Ball zusammen und legte sie genau vor die Bettkante.

"Genau. So." Tanja begriff noch immer nicht worauf er hinaus wollte und blickte ihn fragend an.

"Verstehst du es nicht? Wisdom hat die Decke genau so vor die Treppenstufen platziert und die sie als Hocker benutzt. Dann ist er die nächste Stufe hochgeklettert, hat die Decke mit seiner Schnauze mitgenommen und hat sie bei der nächsten Stufe wieder als Hocker verwendet. Das ganze hat er dann so lange wiederholt bis er oben war. Krass oder?"

Tanja fand es in der Tat krass, dass Wisdom sich so gut zu helfen wusste, doch beunruhigte sie gleichzeitig auch die außergewöhnliche Intelligenz, die der Welpen jetzt schon an den Tag legte. Auf die Idee, eine Decke als Hocker zu benutzen, wäre sie selbst niemals gekommen.

"Ich schaue jetzt mal nach den Welpen. Ich will selber sehen, dass sie wirklich gut schlafen." Sie stand auf und wollte schon losgehen, als Chris sie bereits am Handgelenk gepackt hatte.

"Willst du mir nicht verraten, warum DU nicht gut geschlafen hast?" Tanja hatte den Anstand ein beschämtes Gesicht zu machen.

"Ich... ich habe gut geschlafen, nur ich ehm..."

"Ja?" Als Tanja nichts gutes einfallen wollte, setzte sie sich wieder hin und wurde nachdenklich. Betretenes Schweigen machte sich im Raum breit und eine Weile lang war es ruhig und still.

"Da war eine Kette", begann sie schließlich und starrte auf den Boden, als blickte sie direkt in eine andere Welt. "Eine große, goldene, schwere Kette. Sie war plötzlich um meinen Hals und drückte mir die Luft ab." Tanja rieb sich die Kehle, als würde sie den Druck der Kette noch immer spüren.

"Gleichzeitig sah ich über mir eine Zahl schweben, die im Sekunden-Takt immer kleiner wurde."

"Der Countdown", merkte Chris kurz an. Sie nickte zustimmend und fuhr fort.

"Als der Countdown beinah abgelaufen war, erinnerte ich mich an etwas, woran ich mich eigentlich nie wieder erinnern wollte." Sie hielt kurz inne und schluckte.

"Ich war vier, als meine Mutter eines Nachts entschieden hatte, mich und meinen Vater zu verlassen. Ich konnte nicht schlafen und wollte zu ihr ins Zimmer gehen, als ich plötzlich Geräusche von der Haustür hörte. Ich bin sofort hingegangen, um nachzuschauen wer da war und da stand sie auch schon. Mit Reise-Rucksack und Jacke. Eine Hand schon an der Türklinke angelehnt. Weil ich sie nur von hinten sah, kann ich mich bis heute kaum an ihr Gesicht erinnern. Umso besser weiß ich dafür wie ihr Körper ausgesehen hat. Sie war groß, athletisch und hatte wunderschöne rote Haare, die ihr bis zum Po gingen. Beim Gehen schwenkten sie immer ganz lässig hin und her. Insgesamt wirkte ihre Figur sehr stolz und kriegerisch, aber trotzdem weiblich. Als ich sie dann fragte, wohin sie gehen wollte, blieb sie kurz stehen und sagte, ich solle ihr bloß nicht folgen, denn so ein lästiges Balg wie mich, könne sie nicht gebrauchen. Dann knallte sie die Tür hinter sich zu und kam nie mehr wieder." Tanja zog die Beine an ihren Körper heran und Tränen traten ihr in die Augen.

"Danach habe ich bis zur Einschulung jeden Tag vor der Tür auf sie gewartet. Habe gewartet und gewartet und mich ständig gefragt, warum sie mich zurückgelassen hat, warum sie nicht mehr bei mir sein wollte. Damals war ich nicht so wie jetzt. Temperamentvoll und eigensinnig. Ich war ein braves Mädchen. Fröhlich. Lieb und habe mich immer an die Regeln gehalten. Warum hat sie mir das dann angetan? Warum hat sie mich dann wie lästigen Dreck unterm Schuh abgeschüttelt?!"

Es kam plötzlich aus ihr herausgesprudelt. Wie dickes, schwarzes Blut aus einer Wunde. Einer Wunde, die noch immer nicht verheilt war. Einer Wunde, die vielleicht niemals verheilen würde. Sie richtete den Blick auf Chris.

"Erinnerst du dich noch daran, als Jakob zu mir sagte, dass ich bestimmt als Jungfrau sterben würde? Ich hasse es, es zu zugeben, aber er hat recht - ich meine, wenn noch nicht einmal meine Mutter etwas mit mir zu tun haben möchte, warum sollte es dann irgendwer anders tun?" Tanja bedeckte die Augen mit ihren Handflächen und stütze sich mit den Ellenbogen an ihren Oberschenkeln ab.

"Jemand wie ich hat offensichtlich keine Liebe verdient. Ich bin's selbst schuld. Nutzlos, wertlos - verbrauche nur essen und Luft, die ich auch nicht verdient habe. Ich wünschte ich wäre niemals geboren worden!"

Die letzten Worte verendeten ihr in der Kehle. Erstickten in Trauer und Wut. Ein Gefühl der Verzweiflung machte sich in ihr breit und drängte die Tränen aus ihr heraus. Schnell wandte sie das Gesicht von Chris ab, doch nicht schnell genug. Er sah die Tränen, die wie zwei Sternschnuppen über ihre Wangen huschten. Sah den Schmerz, den Kummer und die Hoffnugslosigkeit in ihrem Ausdruck.

Er beugte sich zu ihr hinüber, drehte ihr Gesicht mit einer Hand zu sich und... küsste sie auf den Mund. Ihre Emotionen, ihre Persönlichkeit, ihre Vergangenheit - das alles konnte er in diesem einzigen Kuss lesen. Bittere Traurigkeit mischte sich unter dem salzigen Geschmack ihrer Tränen und die Zartheit ihrer Lippen, spiegelte die Zartheit ihres zerbrechlichen Wesens wieder. Dass sie sich nicht gegen den Kuss gewehrt hatte, zeigte Chris, wie sehr sie sich Liebe wünschte und wie wenig sie bislang davon erfahren hatte.

Schließlich löste er seine Lippen von den ihren und fesselte sie mit seinem Blick. Liebevoll umfasste er mit den Händen ihr Gesicht und wischte die Tränen mit den Daumen weg. Die Überraschung in ihren smaragdgrünen Augen war unverkennbar, doch funkelte in ihnen auch Neugierde und Lust.

Schlagartig schien es Chris, als würde die Welt dunkler werden. Ein Blick zur Seite zeigte, wie das einst strahlend gelbe Kerzenlicht immer schwächer wurde bis schließlich nur noch ein winziger, blauer Punkt überlebte. Wenig später starb auch dieser. Ertrunken im eigenen Kerzenwachs.

Der Duft von Rauch und Ruß stieg Chris in die Nase und im Raum war es mit einem Mal komplett dunkel. Keiner der beiden sagte etwas. Keiner bewegte sich. Keiner machte auch nur irgendwie ein Geräusch. Plötzlich spürte Chris, wie Tanja seine Hände von ihrem Gesicht nahm... und sie langsam auf ihre Brüste legte.

Sonntag, 10. Juni 2018

Kapitel 6. Keine Sicherheit

Als Chris nach oben gegangen war, um nach Jakob zu schauen, hatte Tanja sich schon einmal bereit fürs Bett gemacht. Dabei handelte es sich nicht wirklich um ein Bett, sondern um eine Couch, die man zu einem bettähnlichen Gestell ausklappen konnte. Sie war dunkelbraun, groß, etwas rauer vom Stoff her, aber ansonsten ganz bequem.

Generell fand Tanja es nicht schlimm im Wohnzimmer zu schlafen. Die hölzernen Möbel und die freie Sicht nach draußen, gaben ihr das Gefühl mit der Natur verbunden zu sein. Besonders Nachts, wenn der Mond über den Himmel herrschte und die Sterne gut zu sehen waren. Das waren die Nächte in denen Tanja am besten schlief. Wohlbehütet und geborgen im dämmernden Licht des Mondes, während die Sterne abwechselnd stärker und schwächer funkelten, als tauschten sie untereinander Gute-Nacht-Geschichten aus. Nicht aber in dieser Nacht.

In dieser Nacht war es der Neumond der über den Himmel herrschte und bei Neumond blieb der Himmel schwarz. Kein Mondscheinlicht und auch kein Sternenfunkeln würde ihr dieses Mal den Schlaf versüßen. So kam es, dass Tanja sich gezwungen sah aufzustehen, um eine Kerze anzuzünden.

Als die Kerze schließlich brannte, ließ sie sich mit dem Rücken zurück ins Bett fallen und starrte mit leerem Blick die hohe Decke an. Im flackernden Kerzenlicht erschien sie gelblich-orange.

'Passiert das alles wirklich?', fragte sie sich nicht zum ersten Mal und wusste wie immer keine Antwort darauf. Es war einfach so viel passiert.

Morgens glaubte sie stets, alles sei nur ein böser Traum gewesen und dass sie in Wirklichkeit noch immer mit Chris und Jakob in ihrem Auto saß und auf Romeo warteten. Sobald er wieder da wäre, würde sie toben, sagte sie sich. Toben würde sie, ihn anbrüllen und ihn fragen was das soll, warum er so lange gebraucht hatte und warum er sich nicht hatte beeilen können, der Scheißkerl!

Doch irgendwann merkte sie, dass irgendetwas nicht stimmte. Spürte die Bettdecke über ihren Leib. Erkannte die Möbel um sich herum und wurde sich wieder schmerzhaft bewusst wo sie war. Gefangen in dem bösen Traum, der gar kein Traum war.

Mit dieser Erkenntnis kehrte dann auch die Erinnerung zurück und mit der Erinnerung erneut das Gefühl von Leere und Verlust.

Noch immer schnürte es ihr die Kehle zu, wenn sie darüber nachdachte, wie sie Jakob hinten im Rücksitz vorgefunden hatte. Regungslos und ohne Körperspannung. Eigentlich schon wie ein Toter.

Sie vermochte sich nicht vorzustellen wie alles abgelaufen wäre, wenn Chris nicht dabei gewesen wäre. Im Gegensatz zu ihr, wusste er immer was zu tun war.

"Tanja, ruf schnell einen Krankenwagen an!", hatte er ihr zugerufen, nachdem er Jakobs Atmung und Puls überprüft hatte. Sie fragte sich wann Chris vom Beifahrerplatz aufgesprungen war und die Tür aufgerissenen hatte, doch legte sie diese Frage erstmal beiseite und kam seiner Aufforderung sofort nach.

Beim Warten erschien es ihr, als verstrichen die Sekunden wie Stunden. Chris musste ebenso empfunden haben.

"Wie lange dauert es noch?", fragte er ungeduldig.

"Keine Ahnung, da geht keiner ran." Zum Beweis schaltete sie den Lautsprecher ein und ließ ihn sich selbst einen Reim auf das ertönende Freizeichen machen.

"Das gibt's doch nicht, mann!", entgegnete er gereizt und suchte mit hin und her huschenden Augen nach einer Lösung. Und da war sie auch schon.

"Dein Vater! Er ist doch Polizeichef oder sowas. Bestimmt kann er uns einen Krankenwagen schicken." Tanja verzog das Gesicht, als hätte sie auf etwas gebissen, dass ihr nicht schmeckte.

"Ja schon, aber ich glaube nicht, dass das sein Aufgabenbereich ist. Außerdem haben wir wieder Streit." Chris sah sie entgeistert an.

"Das kannst du doch nicht ernst meinen, Tanja. Ist Jakob nicht dein Freund?" Tanja schlug mit der Faust gegen das Lenkrad.
"Natürlich ist er das, aber du kennst meinen Vater nicht!"

"Ich kenne aber Jay und Jay würde für dich mit dem Teufel höchst persönlich telefonieren, wenn es dein Leben retten könnte! Jeder von uns würde das für dich tun. Jeder der dein wahrer Freund ist. Würdest du einen wahren Freund sterben lassen, obwohl ein Anruf ihn vielleicht retten könnte?" Tanjas Gesicht rötete sich bei diesen Worten.

"Das ist echt nicht fair von dir, Chris. Das ist einfach nicht fair." Sie wartete seine Reaktion nicht ab, sondern wandte ihm den Rücken zu und rief ihren Vater an. Dabei schien die Zeit wieder kaum zu verstreichen.

"Und?", fragte Chris nach einer Weile. Tanja schüttelte den Kopf. Chris Augen wurden kurz groß. "Was, echt jetzt?" Schweißperlen bedeckten seine Stirn. Er fragte sich, warum heute nur alles schief lief.

Ungebeten überfiel ihn ein unangenehmes Gefühl, so als würde er beobachtet werden.

Rasch warf er einen langen, eindringlichen Blick auf das Schulgebäude, dass wie eine Festung hinter ihnen aufragte. Dabei fiel sein Blick auf einen Raben, welcher in der Nähe des Haupteingangs auf einer Laterne saß. Dieser schien ihn mit seinen roten Knopfaugen fest zu fixieren. Als der Rabe sah, dass Chris ihn beobachtete, blinzelte der Rabe zweimal, wendete den Kopf von ihm ab und flog mit großem Sprung davon. Da traf Chris seine Entscheidung.

"Tanja. Vergiss deinen Vater, mann. Wir müssen hier weg." Er zog Jakob aus dem Auto und warf ihn sich über die Schulter, wie einen nassen Sack Reis. Tanja kam nicht mehr mit.

"Wie jetzt? Was ist denn los? Und warum trägst du Jakob jetzt aus dem Auto, wenn wir doch weg sollen? Ich versteh gerade gar nichts mehr, Chris." Er ignorierte ihre Fragen. Nickte sie stattdessen mit dem Kopf zu sich.

"Komm, wir müssen hier weg! Ich erkläre dir alles auf dem Weg." Tanja setzte ihre bekannte, störrische Miene auf.

"Dann gehen wir aber zur meiner Großmutter. Ich muss unbedingt wissen wie es meiner Luna geht."

"Ist es weit bis zu ihr?" Tanja zeigte mit dem Zeigefinger auf einen Hügel in der Ferne.

"Zehn Minuten von hier. Höchstens fünfzehn."

"Gut, dann lass uns vorübergehend dort hin." Sie waren kaum drei Schritte gegangen, als Tanja laut Aufschrie.

"Verfickte Scheiße!" Chris drehte sich zu ihr um.

"Was ist los? Was ist passiert?" Tanja fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und stöhnte.

"Mein Handy ist gerade aus gegangen und ich kenne den Weg zu Fuß nicht." Mit einer raschen Handbewegung gab Chris seine Armbanduhr zu erkennen.

"Keine Sorge. Ich kenne da jemanden, der uns helfen kann." Er hielt sie sich vor dem Mund und sprach hinein: "Verbindung zu Code B-E-N herstellen."
Eine mechanische Damenstimme antwortete: "Verbindung zu Code B-E-N wird hergestellt." Nach wenigen Sekunden ging schon jemand ran.

"Jo, was gibt's?"

"Ben!" Beim Klang der Stimme seines großen Bruders, wurde es Chris warm ums Herz. "Mann bin ich froh deine Stimme zu hören." Der Ben genannte fing an zu lachen.

"Das sagen die Mädels auch immer. Was ist denn los, Bruder? Wo drückt der Schuh?" Chris vernahm ein weiches Schmatzgeräusch, wie wenn jemand in einen Apfel biss.

"Ben, kannst du mir eine Karte von meinem Standort und meiner Umgebung versenden? Die Koordinaten sind x12/y10 Kontinent 91. Radius 2 bis 6." Wieder war da das Schmatzgeräusch.

"Mmmh, lass mich mal schauen." Ein Orchester aus Tastengetippe und Schmatzgeräuschen spielte eine Zeit lang bis ein lautes Husten die Vorführung beendete.

"Oh, oh. Chris, du musst da sofor... we...!" Ein starkes Rauschen ertönte plötzlich und man konnte das Gesprochene Wort nicht mehr verstehen.

"Ben? Ben?" Es folgte keine Antwort. Tanja trat näher.

"Was ist los?"

"Komisch. Die Verbindung wird plötzlich schlechter", antwortete Chris so überrascht, als hätte er gerade ein Gespenst gesehen.

"Was ist daran komisch?" Chris tippte mit dem Zeigefinger auf die Uhr.

"Meine Uhr benutzt ein komplett anderes Netzwerk, als das von deinem Handy. Verbindungsstörungen habe ich noch nie gehabt."

Tanja fühlte sich an die Störgeräusche, die ihr Autoradio vorhin von sich gegeben hatte, zurück erinnert. Und jetzt wo Chris es sagte, auch ihr Radio hatte bis dahin nie Probleme gemacht. Was hatte das zu bedeuten?

"Bruder? Brud..? Bist...u... noch da? Hallo..örst... u... mich?", kam es verzerrt aus Chris Uhr heraus.

"Ja, ich bin hier, Ben! Kannst du mich hören? Ben!?"

"Lauf..., Bruder. Es ist zu... gefähr...wo du.. ist, ...lauf!"

"Was? Ich versteh kein-"

"Verbindung zu Code B-E-N wurde abgebrochen", unterbrach ihn die mechanische Damenstimme und das Rauschen war mitsamt der Stimme seines Bruders verschwunden.

"Verdammt! Was hatte er am Ende gesagt? Tanja, hast du vielleicht verstanden was er ge-", hatte Chris angesetzt, als ihm beim Anblick der Situation die Worte in der Kehle verendeten. Eine goldene Kette hatte sich wie eine Würgeschlange um Tanjas Hals geschlungen und ihr die Luft abgedrückt und über ihren Kopf schwebte eine Zahl, die sich im Sekunden-Takt veränderte.

Acht.

Sieben. 'Nein, das darf nicht sein!'

Sechs. 'Das kann nicht sein!'

Fünf.

Und da Begriff er es. Bei Null würde Tanja verschwinden.

Vier. "Neeeein!", schrie er und lief mit Jakobs Körper auf seinen Schultern so schnell er konnte auf sie zu.

Drei. "Tanja!" Er streckte seine Hand nach ihr aus. "Gib mir deine Hand, schnell!" Doch dies war ihr unmöglich. Stattdessen war sie gerade dabei das Bewusstsein zu verlieren. Ihre Pupillen waren schon soweit nach oben gerollt, dass man nur noch das weisse, der Augen sehen konnte.

Zwei. Chris holte nochmal alles aus sich heraus und hoffte sein linker Arm, der nicht mit dem Gewicht von Jakob beladen war, würde es noch rechtzeitig schaffen.

Eins.

"Tanja!" Sein lauter Ruf war für sie zu einem leisen Flüstern verklungen. Sie wollte ihm die Hand reichen. Sie wollte es unbedingt, doch sie konnte es nicht! Keine Kraft war mehr in ihr geblieben. Keine Kraft und bald auch keine Leben mehr so dachte sie noch, bevor ein grelles, blaues Leuchten, sie wie ein Lichtschalter ausknippste und Schwärze ihr das Augenlicht raubte.

Das letzte an das sie sich noch erinnerte, war die tröstliche Wärme einer Hand, bevor ihr der Kopf von einer Übermacht abgerissen wurde.

In jener Nacht herrschte der Neumond.