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Donnerstag, 22. Januar 2015

Kapitel 2. Der Countdown

"Leute, ich hab's gewusst - ich hab's sowas von gewusst! War ja klar, dass Romeo nicht so schnell wieder auftauchen würde, wenn er sagt, dass er SOFORT wieder da sein wird - ist doch immer das gleiche mit ihm! Wo steckt er überhaupt?" Es war Tanja, die sich wie so oft abermals über Romeos Zuspätkommen beklagte und es langsam Leid war sich ständig und immer wieder in der Situation wiederzufinden auf ihn warten zu müssen. Glücklicherweise hatte Chris vor knapp einer viertel Stunde vorgeschlagen schon mal ins Auto einzusteigen und sich in der Zwischenzeit vom Radio ablenken zu lassen. Für diesen Einfall war Tanja ihm überaus dankbar, denn trotzdessen, dass der Frühling sich hier und dort durch allmählich ersichtbare Blütenknospen zu erkennen gab, wehte die meiste Zeit eine ungewöhnliche Kälte im Winde mit.

"Jetzt wo du fragst", bemerkte Chris vom Beifahrerplatz aus, während er sich nachdenklich durch den breiten Ziegenbart strich.

"Ich bin bis eben noch davon ausgegangen, dass er sich nur mal kurz entleeren wollte, aber jetzt ist er echt schon lange weg."
Er drehte sich schräg nach hinten zu Jakob um, welchen er müde am Unterarm angelehnt und aus dem Autofenster blickend vorfand.

"Jay, hast du eine Ahnung wo Romeo hingegangen sein könnte?" Ohne großartig seine bequeme Sitzposition zu verändern, zückte Jakob sein Handy aus der Hosentasche und warf einen prüfenden Blick auf die Uhrzeit.

"Mir hat er nichts gesagt. Ich ging auch davon aus, dass er sich nur mal kurz 'entleeren' wollte." Jakob sprach das Wort "entleeren" auffällig deutlich aus, so als habe es etwas spezielles mit dem Wort auf sich gehabt.

"Und wo ist er dann?", wollte Tanja wissen. Chris und Jakob tauschten einen fragenden Blick aus. Tanja wurde sauer.

"Toll. Ihr habt auch keine Ahnung? Ja und jetzt?"
Noch vor einer halben Stunde hätte Chris Tanjas steigende Wut übels witzig gefunden. Doch irgendwie war ihm gerade gar nicht nach Lachen zumute. Jakob dachte laut nach.

"Möglicherweise hält ihn jemand auf, obwohl... dann hätte er uns doch geschrieben." Er hielt kurz inne bevor er weitere Gedanken offen aussprach.

"Und mittlerweile sind schon fast zwanzig Minuten um. Irgendetwas muss passiert sein." Obwohl Chris Hautfarbe einen warmen braunton besaß, schien sein Gesicht nach diesen Worten blasser geworden zu sein. Schon bevor Tanja nach Romeos Verbleib gefragt hatte, war er zur einer ähnlichen Schlussfolgerung gekommen, doch hatte er dies als absurdes Hirngespinst abgetan. Seltsamerweise klang das selbe Hirngespinst aus Jakobs Mund plötzlich gar nicht mehr so absurd.

"Ich rufe ihn jetzt an", beschloss Chris knapp und tätigte dieses mal einen gelb-leuchtenden Knopf seiner schwarzen Armbanduhr.

"Verbindung zu Code R-o-m-e-o herstellen." Es verging kaum eine Sekunde, da antwortete die Uhr schon mit einer sanften, aber mechanischen Damenstimme:

"Code R-o-m-e-o existiert seit 19 Minuten und 34 Sekunden nicht mehr. Falsche Zeitzone. Falsche Zeitzone." Chris blickte seine Uhr fragend an.

"Was? Romeos Nummer existiert nicht mehr? Das kann doch nicht sein, ich hatte heute Nachmittag in der noch mit ihm telefoniert, mann... ich versuch's nochmal." Wie ein Giftpfeil flog Tanjas Hand auf Chris Unterarm und stoppte ihn inmitten seiner Bewegung.

"Warte! Lass mich ihn anrufen. Dann kann er sich direkt was von mir anhören, aber frag nicht nach Sonnenschein." Für Chris war dies eigentlich umso mehr ein Grund gewesen Romeo selbst anzurufen, doch Tanjas störrischer, dickköpfiger Gesichtsausdruck ließ seinen Arm mitsamt Armbanduhr irgendwie schwer werden.

"Okay, dann ruf du ihn an", ergab er sich widerwillig. Sie würde ihn ja sowieso anrufen, gleichgültig was er sagen würde. Also wählte Tanja Romeos Nummer und schaltete anschließend den Lautsprecher ein, damit sie danach nicht gezwungen war alles doppelt und dreifach erzählen zu müssen. Gespannt lauschten sie nach dem Freizeichen, doch auch bei ihr antwortete ziemlich schnell eine maschinenartige Stimme. Dieses Mal männlicher Natur:

"Diese Nummer ist nicht vergeben. Diese Nummer ist nicht vergeben. Diese Nummer ist nicht vergeben." Sie legte auf. Entsetztes Schweigen brach über die drei herein. War Romeo tatsächlich etwas zugestoßen? Wieder tauschten Chris und Jakob Blicke aus. Chris fand als erster das Wort wieder.

"Leute, was sitzen wir hier noch blöd herum? Wir müssen Romeo sofort suchen gehen! Vielleicht liegt er genau in diesem Moment mit gebrochenem Bein irgendwo am Boden... oder er hat sich erst ein Bein gebrochen und wurde dann von einem lockeren Ziegelstein am Kopf getroffen, sodass er auch noch das Bewusstsein verloren hat oder... "

"Chris, beruhig dich wieder", entgegnete Jakob überraschend laut und packte ihn von hinten an der Schulter.

"Romeo wird weder das Bein gebrochen haben noch irgendwo bewusstlos herumliegen, okay? Ihm geht es gut." Mit diesen Worten hatte er nicht nur Chris, sondern und vorallem auch sich selbst beruhigen wollen. Schließlich konnte es tatsächlich sein, dass Romeo irgendwo schwerverletzt am Boden lag und gerade dringed Hilfe benötigte. Er ließ Chris los, der mit erschrockenem Gesichtsausdruck nun da saß. Von neuem folgte ein Blickaustausch, dieses mal aber länger und intensiver. Selbst Tanja bemerkte die Spannung in der Luft und wagte es nicht dazwischen zu funken. Wieder fand Chris als erstes das Wort:

"Jay, ich meine es ernst. Wir müssen ihn such-",

"Nein. WIR müssen gar nichts. ICH werde Romeo suchen gehen und zwar allein. Falls er nämlich doch noch gleich kommen sollte, muss er hier jemanden antreffen. Außerdem macht es nur dann Sinn zu dritt zu gehen, wenn wir uns bei der Suche aufteilen würden. Da wir aber noch nicht wissen, was der Grund dafür ist, dass Romeo nicht mehr zu erreichen ist, ist es erst einmal sicherer, wenn nur einer von uns geht und der Rest hier wartet." Jakob schaute kurz mit etwas zusammengekniffenen Augen aus den Fenstern raus.

'Seltsam... seitdem wir hier warten, habe ich keine einzige Person mehr an uns vorbeigehen gesehen. Irgendetwas stimmt hier nicht.'

"Jay, lass uns doch zu zweit gehen, mann. Dann finden wir ihn viel schneller und Tanja kann hier warten und-"

"Und wer passt dann auf Tanja auf?" Chris langes Schweigen ließ darauf schließen, dass er dies nicht bedacht hatte. Gereizt schaute er zur Seite und presste die Lippen fest zusammen.

"Jungs, beruhigt euch mal. Was ist auf einmal los mit euch? Ihr tut ja so, als ob hier ein Amokläufer herum spazieren würd-"
"Psst!" Chris stupste sich mit dem Zeigefinger auf den Mund, eine Geste, die aussagte, dass sie für einen Moment die Klappe halten sollte. Jetzt hörte sie es auch. Was war das? Chris erkannte als erster was es war und erhöhte die Radiolautstärke:

"Wir unterbrechen das Programm für eine wichtige Eilmeldung. Soeben hat uns die Nachricht erreicht, dass eine Vielzahl von Personen als vermisst gemeldet worden sind. Unter den Vermissten sind Menschen aus der ganzen Welt - erwachsene Männer, Frauen sowie Kinder sind davon betroffen. Augenzeugen, die das Verschwinden der Opfer gesehen haben sollen, berichten, dass über den Köpfen der Opfer wie aus dem Nichts ein 10 sekündiger-Countdown erschienen sei und sich dabei gleichzeitig etwas um den Ha-Hals- aargh! W-was ist... das... ich kr...kr...ieg... keine Luf... argh...n-nein...bitte aufhör... arrgh... der... Countdown... Hil...fe... bitte helft... mir... doch jema... aaaaahh!!"

Kapitel 1. Vier Freunde

Als der Schulgong ertönte, setzten sämtliche Geräusche wie auf Kommando ein. Reißverschlüsse von Federmäppchen wurden zu gezogen, sämtliche Stühle wurden quietschend hin und her gerückt und kreischend strömten die Schüler mit stampfenden Schritten lärmend aus dem Klassenzimmer heraus - darunter auch die vier Freunde Chris, Tanja, Jakob und Romeo.

„Na, endlich. Das wurde aber auch Zeit, mann! Ich dachte schon der Unterricht würde nie enden“, rief Chris erleichtert und schaute mit ausgestreckten Armen zur Schuldecke hinauf, als wollte er den Himmel umarmen. Chris war großgewachsen, durchtrainiert und besaß eine vollmilch-schokoladige Hautfarbe. Sein krauses Haar war oben kurz und an den Seiten fast kahl, während seine Augen dunkelbraun und sympatisch waren. Gerade wegen der breiteren Nase und den vollen Lippen, bekam sein Gesicht etwas Markantes und irgendwie auch Ausdruckstarkes.

"Ey, jetzt haben wir heute schon wieder so viel auf bekommen", beklagte sich Tanja und verdrehte dabei genervt die Augen. "Checken die Lehrer denn nicht, dass es auch noch sowas wie ein Leben nach der Schule gibt?“ Tanja sah neben Chris beinah wie ein Zwerg aus und war auch sonst deutlich kleiner als die anderen. Sie trug ihr braunes im Licht manchmal rot schimmerndes Haar kurz, besaß spinatgrüne Augen und eine kleine, nach oben verlaufende Stupsnase. Obgleich sie als Kind schon öfter für einen Knaben gehalten worden war, war es mittlerweile unverkennbar, dass sie dem weiblichen Geschlecht angehörte. Als sie sich weiterhin über die aufgetragenen Hausaufgaben beklagen wollen, bemerkte sie aus dem Augenwinkel heraus, wie Jakob scheinbar ihretwegen den Kopf schüttelte. Irgendwie regte er sie damit auf.

"Was passt dir denn jetzt schon wieder nicht, Vierauge?", keifte sie ihn an. Ein vielwissendes Lächeln stahl sich daraufhin auf seinen Lippen. Obwohl Jakob nur ein bis zwei Jahre älter war, als die anderen, machte er stets einen viel reiferen Eindruck, so als trage er die Lebenserfahrung eines erwachsenen Mannes in sich. Braunes, ordentlich gepflegtes Haar sowie eine randlose Brille schmückten diesen fast wie Chris großen, jungen Mann. Seine Haut war auffällig blass, doch genau dieser vampirähnliche Teint ließ seine tief liegenden, blauen Augen stählernd wirken.

"Liegt es nicht auf der Hand?", entgegnete er kühl und rückte dabei mit dem Zeigefinger die auf seiner Nase befindliche Brille zurecht.

"Mach sie doch einfach nicht. Biete morgen stattdessen ein fünf-minütiges Referat an oder erledige nur den schwierigsten Teil der Aufgaben und trage nur diesen vor. Du kannst sie notfalls sogar im Unterricht erledigen, wenn wir sie besprechen." Er tippte sich vielsagend mit dem Zeigefinger an die Schläfe. "Mach wenigstens von dem hier gebrauch, wenn du schon weniger Arbeit anstrebst." Tanjas Kopf wurde augenblicklich rot vor Zorn.

"Du eingebildeter, blöder Klugscheißer. Du hälst dich wohl für superschlau, nur weil du Klassenbester bist, was? Deine tollen Ratschläge kannst du dir in den Arsch schieben! Ist es denn meine Schuld, dass der Tag nur 24 Stunden hat?" Sie hatte wieder einmal den springenden Punkt nicht begriffen, dachte sich Jakob, der mittlerweile bereute überhaupt etwas gesagt zu haben.

"Ich bin Klassenbester? Das höre ich zwar zum ersten Mal, doch das bedeutet mir nichts. Was ich dir sagen wollte ist - ach, warum erkläre ich dir das überhaupt. Vergiss einfach was ich gesagt habe."

„Ach, warum erkläre ich dir das überhaupt. Vergiss einfach was ich gesagt habe“, äffte Tanja ihn mit schielenden Augen nach und legte sich Zeigefinger und Daumen so um die Augen, dass sie eine Brille ergaben. Chris stand kurz davor laut loszulachen. Jakobs Gesicht hingegen hätte nicht noch regungsloser sein können. Schließlich wandte er den Blick von ihr ab und ließ wie beiläufig eine Bemerkung fallen.

"Mich wundert es überhaupt nicht, dass du mit deinen 17 Jahren noch nie einen Freund hattest. Wenn du so weiter machst, wirst du noch als Jungfrau sterben." Tanjas soeben noch belustigte Miene gefror bei diesen Worten zu Eis.

"W-Was redest du da? Als ob du das beurteilen könntest, d-du Idiot! Außerdem werde ich schon bald 18", entgegnete sie mit nun vor Scham rot angelaufenem Kopf und war sichtlich aufgebracht bezüglich der Bemerkung. Chris konnte sich daraufhin nicht mehr am Riemen reißen und ließ nun schallendes Gelächter erklingen. Schon immer hatte Chris ihre Streitereien mit Belustigung mitverfolgt. Gerade dann, wenn Tanja so wütend geworden war, dass man hätte meinen können, dass sie kurz davor stand Jakob eigenhändig umzubringen. Anfangs, war Chris stets darum bemüht gewesen die beiden bei jedem Anzeichen von einem Streit auseinander zu halten. Mit der Zeit jedoch hatte er begriffen, dass das Triezen und Sticheln deren ganz spezielle Art und Weise war, sich gegenseitig zu zeigen, dass der eine dem anderen nicht egal war - zumindest glaubte er, dass deren Freundschaft irgendwie so in der Art funktionierte.

„Leute, wo bleibt ihr denn?", fragte fünf Schritte weiter eine hellere Jungenstimme, die seitdem sie die Klasse verlassen hatten kein einziges Wort mehr verloren hatte. Es war die Stimme von Romeo. Romeo war in der Gruppe wie die Kirsche auf der Sahne. Er besaß als einziger glänzendes, blondes Haar, welches ihm bis kurz über die Wangen ging und unschuldige, hellblaue Augen. Generell schien ihm etwas magisches und anziehendes im Gesicht beizuwohnen - eine Ausstrahlung, die einen unweigerlich dazu zwang ihn bewusst wahrzunehmen.

Gerade als die anderen wieder zu ihm aufholten, vernahmen sie ein leises Gegrummel aus der Richtung seines Bauches. Romeo fasste sich am Nacken und lächelte verlegen. Erneut ließ Chris schallendes Gelächter ertönen und warf dabei seine langen, muskulösen Arme um Tanjas und Jakobs Schultern.

„Wisst ihr was, Freunde?", fragte er ohne eine Antwort abzuwarten.

"Lasst uns doch spontan zu mir fahren und richtig lecker zusammen essen. Ich wollte euch ohnehin schon immer mal zu mir einladen und heute ist keiner bei mir zu Hause!" Er drückte seine Arme etwas enger beisammen und sprach nun im verführerischen Flüsterton weiter:

"Dann wärt ihr zwei Süßen ungestört und könntet in aller Ruhe weiter turteln. Na, wie wär's?“ Wie zwei bockige Kinder, die nicht miteinander spielen wollten, wendeten Tanja und Jakob den Blick voneinander ab. Nur Romeo schien begeistert von der Idee und bekam ganz große Augen.

"Wir haben schon ewig nicht mehr gemeinsam nach der Schule was unternommen - ich finde die Idee super, Chris!" Von einem ganz anderen Gedanken überfallen, blieb Romeo unangekündigt stehen.

"Ach, mir fällt gerade etwas ein. Geht ruhig schon mal vor. Ich werde sofort nachkommen, okay?.“ Ohne weitere Erklärungen eilte Romeo wieder in den Gang zurück aus dem sie gerade gekommen waren und bog nach wenigen Laufschritten seitlich ab.

"Wir warten am Parkplatz vor meinem Auto auf dich. Und beeil dich dieses mal bloß!", rief Tanja ihm noch schnell hinterher, obwohl Romeo schon nicht mehr in Sichtweite war. Sie wandte sich wieder Chris zu.

"Wie lange fährt man denn bis zu dir mit dem Auto?" Chris gab mit einer ruckartigen Handbewegung eine pechschwarze, hochglanz polierte Armbanduhr zu erkennen. An dessen Seite betätigte er einen Knopf, welcher kurz darauf im mystischen lilaton hell aufleuchtete. Wo bis vorhin Uhrzeit und Datum abzulesen waren, war nun eine kleine Karte mit einer in orange abgebildeten Strecke zu sehen. Am Anfang der Strecke blinkte ein kleiner, roter Punkt, welcher ihren aktuellen Standpunkt kennzeichnete, während am Ende der Strecke ein blaues Häusschen stand - Chris Zuhause. Erneut tätigte Chris den Knopf, um genauere Informationen über die Strecke zu bekommen und verzog beim Anblick der angezeigten Kilometeranzahl das Gesicht.

"86 Kilometer würden wir bis zu mir fahren, also knapp eine Stunde lang", antwortete Chris ganz leise und kratzte sich beschämt am Hinterkopf, "aber dafür", hier kehrte die Freude in seiner Stimme wieder zurück, "werden wir eine tolle Zeit miteinander haben und das ist die lange Fahrt doch dann wert! Komm schon, es wird ganz witzig. Ganz wie früher!" Mit früher meinte Chris die Zeit vor zwei Jahren. Damals hatte er noch direkt neben Tanja und ganz in der Nähe von Romeo gewohnt und konnte dadurch jeden Tag etwas mit ihnen unternehmen. Auch hatte er einen viel intensiveren Kontakt zu Jakob gehabt, da sie beide die selbe Kampfsportschule besucht hatten und nicht selten auch in ihrer Freizeit zusammen trainierten. Doch das alles schien vor über 100 Jahren gewesen zu sein.

"86km?", staunte Tanja mit schriller Stimme.

"Ich fahr doch jetzt nicht 86 Kilometer bis zu dir, Chris. Es ist gleich 16 Uhr und wir sind nicht einen einzigen Meter gefahren. Allein die Fahrzeit wird uns zwei Stunden kosten und dabei wollte ich heute früher nach Hause, weil ich morgen früh zu meiner Oma muss. Nein Chris, das kannst du voll knicken. Auf gar keinen Fall bin ich dab-", noch bevor Tanja ihren Satz zu Ende sprechen konnte, hatte Chris sie schon in den Schwitzkasten genommen und ihr mit einem bösen Lachen das Haar zerzaust.

"Und wie du dabei sein wirst, junge Dame. Jedenfalls, wenn du weiterhin möchtest, dass ich dir bei den Klausuren helfe." Tanja zog und zerrte am unbeugsamen Arm von Chris, doch es war, als versuchte eine Maus sich aus dem Griff einer Würgeschlange zu befreien.

"Jay, du bist doch auch dabei, stimmt's?", fragte er, während er Tanja weiterhin mit so wenig Kraftaufwand wie möglich im Schwitzkasten behielt. Chris war weit und breit der einzige, der Jakob 'Jay' nannte statt ihn beim richtigen Namen zu nennen. Obwohl es bekannt war, dass Jakob nicht gerade ein Freund von Spitznamen war, hatte dieser Chris noch nie diesbezüglich zurecht gewiesen.

"Nein, ich habe schon etwas vor", lehnte Jakob den Vorschlag ab. "Ein anderes mal vielleicht." Tanja, die sich endlich mit aller Kraft aus Chris Griff befreien konnte, warf ihm nun mit gerötetem Kopf einen beleidigten Blick zu.

"Blödmann! Musst du das immer mit mir machen?" Tanja versuchte nach ihm zu schlagen, aber spielerisch leicht wich Chris ihr aus und zollte ihren Worten keine Beachtung. Stattdessen überraschte ihn, dass Jakob erneut keine Zeit für sie hatte. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn.

"Jay? Ist alles in Ordnubg bei dir, mann?"
Jakob blickte beim Gehen auf den Boden und schien plötzlich in Gedanken vertieft zu sein.

"Jay? Jay mann, hörst du mich?" Noch immer ruhte Jakobs Blick gedankenverloren auf den grauen Asphaltboden. Hörte er ihn wirklich nicht? Erst als Chris sich vor ihm stellte und ihn mit beiden Armen an den Schultern packte, machte Jakob wieder den Eindruck anwesend zu sein.

"Was ist los, Jay? Brauchst du Hilfe bei irgendetwas? Bist du in Schwierigkeiten? Du kannst dich immer auf mich verlassen, wenn-"

"Nein", schnitt Jakob ihm das Wort ab und stieß Chris Arme von seinen Schultern weg.

"Es ist alles in Ordnung. Ich brauche keine Hilfe." Seine Stimme klang hart und kalt wie Eisen.

"Aber danke", fügte er rasch hinzu, weil er bemerkte, dass er strenger klang, als er eigentlich beabsichtigt hatte.

Wie aus heiterem Himmel ertönte ungebeten ein lautes Vibrieren. Jakob griff in die schwarze Anzugshose, die ihn kleidete und zückte sein Handy heraus. Er warf einen flüchtigen Blick auf den Bildschirm und ging ohne die Miene zu verziehen ran.

"Guten Tag, Herr Gerens... Nein, Sie stören nicht, ich habe gerade Zeit... richtig... okay... okay ich verstehe... und nächstes Wochenende auch nicht?... okay... okay, verstehe... gut, dann verbleiben wir so... auf Wiedersehen." Noch bevor Jakob auflegen konnte, sprang Chris ihm direkt vor die Nase und überfiel ihn mit seinen Fragen. Dabei hatte er Jakob abermals an den Schultern gepackt und ihn mit jeder Frage dramatischer geschüttelt.

"War das dein Chef? Herr Gerens ist doch dein Chef, stimmt's? Was hat er gesagt? Hast du frei bekommen? Bitte, sag, dass du frei bekommen hast, bitte!"

"Ja, es war mein Chef und jetzt lass mich los." Chris ließ ihn augenblicklich los und umarmte Tanja vor Freude, als stünde es schon fest, dass Jakob mitkommen würde.

"Hast du das gehört, Tanja? Jay ist dabei! Mann, wie ich mich freue! Endlich geht hier wieder was - der Tag heute wird ganz speziell, das spüre ich!" Tanjas Begeisterung hielt sich in Grenzen. An Stelle von Euphorie und Vorfreude, spiegelte ihre Mimik Ungläubigkeit und Skepsis wieder.

"Hä? Er hat doch nur das Wochenende frei bekommen. Das heißt doch noch lange nicht, dass er gleich mitkommt."
Jakob beschlich ein komisches Gefühl. Das er einfach so ein komplettes Wochenende frei bekommen hatte, ist bislang noch nie vorgekommen. War irgendetwas auf der Arbeit passiert? Andererseits war Jakob dadurch, dass er jetzt frei bekommen hatte nun in der Lage alle Erledigungen die er heute noch machen wollte auf das Wochenende zu verschieben. Und tatsächlich hatte er schon lange nichts mehr mit seinen Freunden unternommen. Hatte er nicht auch mal eine kleine Pause verdient?

"Also gut", seufzte Jakob schließlich.

"Ausnahmsweise komme ich heute mal mit und erledige den Rest am Wochenende."

"Das ist mein bro!", jubelte Chris voller Freude und legte auf der Stelle einen Rückwärtssalto hin. Tanja hingegen äußerte sich mit keinem Laut zu Jakobs Entscheidung, doch das Lächeln, welches kurz über ihr Gesicht huschte, sprach Bände. Was die drei zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnten war, dass sie Romeo nie wieder sehen werden würden.