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Sonntag, 27. August 2017

Kapitel 5. Ein neuer Begleiter

Es war später Abend geworden. Das Schlafzimmer, welches Chris gerade betrat, war kalt und duster. Nur die Laterne, die er sich mit ausgestrecktem Arm vor die breite Brust hielt, vermochte es dem Raum ein wenig Licht und Wärme und auch ein wenig Trost zu spenden.

'Komm schon, mann. Bitte sei heute wach... bitte... wir brauchen dich, Jay', hoffte Chris verzweifelt in Gedanken, derweil er die Tür behutsam hinter sich zu schob. Jeden Morgen und jeden Abend hatte er dafür gebetet, dass Jakob unbeschadet aus der Ohnmacht erwachen möge, in die er am Tag, wo sie nach Romeo suchen wollten ohne Vorwarnung gefallen war. Doch es hatte nichts genützt.

Mehr als sechs Wochen lang befand sich Jakob mittlerweile im Koma. Heute würde es womöglich die siebte werden.

'Nein. Heute wird er aufwachen. Heute wird er ganz bestimmt aufwachen. Er muss einfach!', zwang sich Chris immer wieder zu denken und schloss dabei seine Hand so feste um den Griff der Laterne, als wäre es die Hoffnung selbst.

Mit jedem Schritt, den er nach vorne tat, traten nach und nach einzelne Möbelstücke aus der Dunkelheit hervor, wie Muscheln am Strand, wenn das Meer sich zurückzieht.

Rechts im Zimmer befanden sich ein weißer Schminktisch, ein ebenso weißer Wandspiegel und ein aus Stroh geflochtener Wippstuhl, wobei Letzteres optisch nicht so recht zum übrigen Mobiliar passen wollte. Auf der linken Seite dagegen stand nahe einem auf Kippe stehendem Fenster eine kleine, weiße Kommode, worüber an der Wand ein wunderschönes in gold eingerahmtes Hochzeitsfoto hing - Tanjas Großeltern. Chris erinnerte sich noch daran, wie sehr ihn das Bild beim aller ersten Mal überwältigt hatte. Ein lebhafteres und glücklicheres Bild von einem Paar hatte er noch nie gesehen.

Ein nicht so lebhaftes und glückliches Bild bot dagegen der Anblick auf das breite Bett vor ihm. Mittendrin Jakob. Noch immer regungslos. Noch immer totenstill.

Chris ging über die rechte Seite auf ihn zu, die Beine schwer wie Blei. Stillschweigend ließ er den Blick auf seinen daliegenden Freund ruhen und dachte an längst vergangene Zeiten. Eine ganze Weile lang geschah nichts und die Zeit verstrich ohne dass es Chris aufgefallen war.

Dann stellte er die Laterne vorsichtig auf dem Schminktisch ab, verrückte den Wippstuhl etwas nach hinten und ging schwerfällig wie ein gichtkranker, alter Ritter auf ein Knie. Er umschlang Jakobs linke Hand mit den seinigen und fand sich schließlich in der Gegenwart wieder.

"Hey", flüsterte Chris ihm zu. Stets flüsterte er, wenn er dieserorts zu Jakob sprach. "Wie geht es dir heute?" Der blasse, regungslose Körper antwortete nicht. Dennoch genügte ein einziger Blick in das leblose Gesicht, um darin die Antwort abzulesen. Er sah die tiefen Gruben der eingefallenen Wangen. Die langen, dunklen Ränder unter den Augen. Die trockenen und spröden Lippen, welche viele, kleine Risse aufwiesen. Plötzlich schien die Welt zu verschwimmen bis Chris merkte, dass er weinte. Nun konnte er ein leises Schluchzen nicht mehr länger zurückhalten.

"Wi-wie konnte das nur passieren, mann... wie konnte das nur... pa-passier-... ", seine Stimme brach und der Satz blieb unvollständig, wie die Welt für ihn ohne seinen geliebten Freund Jakob. Sein Bruder, wenn auch nicht dem Blute nach. Wieder verstrich Zeit. Ob zwei Minuten oder zwei Stunden vermochte er nicht mehr zu sagen.

Unangekündigt glaubte er plötzlich etwas gehört zu haben. Ein leises, helles, immer wieder einkehrendes Geräusch, wie wenn jemand an etwas herum schabte.

'Was war das?' Er hielt kurz inne und lauschte mit den Ohren nach der Wahrheit. Kurze Zeit darauf ertönte das Geräusch wieder. Leise und hell und ganz in der Nähe.

'Es kommt von hier', vermutete er nach einer Weile und schaute links neben sich auf den Boden. Und tatsächlich! Zwar konnte er wegen seines eigenen Schattens, nicht viel erkennen, doch glaubte er gesehen zu haben, wie sich etwas Dunkles im Dunkeln bewegt hatte. Wie ein Schatten im Schatten. Rasch rieb er sich mit beiden Händen Tränen und Trauer aus dem Gesicht und blickte mit einem Mal wieder ernst drein. Das Wesen im Schatten schien zu wissen, dass es nicht gleich erkannt worden war und trat tappend und mit großen Augen aus der Dunkelheit hervor. Chris soeben erst ernst gewordene Miene schmolz augenblicklich dahin.

"Wisdom", hörte er sich erstaunt sagen, als das wunderschöne Gesicht eines Hundewelpen ihn mit klug drein blickenden Augen fixierte. Er fragte sich, wie ein Wesen nur so magisch aussehen konnte. Die linke Gesichtshälfte des kleinen Vierbeiners war weiss wie Schnee und enthüllte ein kühles, eisblaues Auge. Die rechte Gesichtshälfte dagegen war rabenschwarz und gab ein warmes, hellbraunes Auge zu erkennen. Aufgrund dessen hatte Chris ihn zunächst Twoface, Blackwhite Delight oder Twindog nennen wollen. Als Tanja jedoch von jener Auswahl zu hören bekam, war sie beinah aus der Haut gefahren.

"TWOFACE? BLACKWHITE DELIGHT? TWINDOG???", hatte sie giftig ausgespuckt und zwar in einem Tonfall, welcher besagte, dass Chris ein kompletter Vollidiot war. "Auf keinen Fall", hatte sie entschieden gesagt und fügte dem noch hinzu:

"Luna's neugeborenen Hundewelpen sind doch keine dummen Rollenspiel-Charaktere aus irgend einem dummen Computerspiel. Sie sind lebendige Wesen mit einer richtigen Seele, daher werden wir ihnen auch einen richtige Namen geben. Am besten einen mit einer schönen Bedeutung, der aber trotzdem noch zu den Welpen passt."

Daraufhin hatte Chris ihr versprochen sich daran zu halten und so kam es, dass er sich zwei Wochen später für den Namen 'Wisdom' entschieden hatte, welches Tanja wohlwollend und mit großen, glänzenden Augen aufnahm.

"Was machst du denn hier, Großer?", fragte er den kleinen Vierbeiner noch immer verwundert über sein Erscheinen. "Und wie bist du eigentlich ganz alleine die hohen Treppenstufen hochgeklettert, mann?" Wisdom antwortete nicht. Hob nur die Pfote und kratzte erneut an der Seite des Bettes, jedoch nur ganz leicht und mit Bewegungen, die dem menschlichen Anklopfen erstaunlich nahe kamen. Chris hatte sofort verstanden.

"Ich seh schon du willst zu Jay, stimmt's?" Ohne eine Antwort abzuwarten hob er den zierlichen Welpen mit seinen großen, starken Händen vom Boden auf und legte diesen halb unter die wärmende Bettdecke neben Jakobs Gesicht, wo dieser sich genau in die Mulde zwischen Hals und Schulter einkuscheln konnte. Sobald der Welpe eine gemütliche Schlafposition gefunden hatte, schenkte dieser Jakob noch einen letzten, feuchten gute Nacht Schlecker auf die Wange und folgte ihm danach friedlich in den tiefen Schlaf.

"Perfekt. Da liegst du gut, Großer", flüsterte Chris und verließ das Zimmer leichten Herzens. Für einen kurzen Augenblick meinte er gesehen zu haben, wie Jakobs Lippen sich zu einem kleinen Lächeln geformt hatten. Es gab also noch Hoffnung für seinen Freund. Hoffnung für die Zukunft und Hoffnung... für die gesamte Menschheit.